Beim Heurigen in Traiskirchen

Mittwoch, 9. Dezember 2015

Etwas Tucholsky zum 9. Dezember

Dieses Gedicht von Kurt Tucholsky ist aktueller denn je." Das Ideal" beschreibt die Gier vieler  Menschen immer alles haben und besitzen zu wollen. Das Streben nach Perfektion und die anhaltende Unzufriedenheit, wenn man bemerkt, dass das Ideal unerreichbar scheint . Was ist das für eine Gesellschaft die in materiellem Besitz die Erfüllung findet und sich darüber definiert?
Eine Gesellschaft der es nur noch um´s messen geht, da wird begutachtet und gewogen, haste was, biste wer. Deine 21 Gramm Seele, die dich ausmachen, die dich so einzigartig und wertvoll machen, diese 21 Gramm sind nichts wert, sie werden geopfert für das Ideal, dass keines ist.



Kurt Tucholsky
09.01.1890 in Berlin
gestorben
21.12.1935 in Göteborg im Exil

Das Ideal

Ja, das möchste:
Eine Villa im Grünen mit großer Terasse,
vorn die Ostsee, hinten die Friedrichstraße;
mit schöner Aussicht, ländlich-mondän,
vom Badezimmer ist die Zugspitze zu sehn-
aber abends zum Kino hast du´s nicht weit.

Das Ganze schlicht, voller Bescheidenheit:

Neun Zimmer,- nein, doch lieber zehn!
Ein Dachgarten, wo die Eichen drauf stehn,
Radio, Zentralheizung, Vakuum,
eine Dienerschaft, gut erzogen und stumm,
eine süße Frau voller Rasse und Verve -
(und eine für´s Wochenende in Reserve)-,
eine Bibliothek und drumherum
Einsamkeit und Hummelgesumm.

Im Stall: Zwei Ponies, vier Vollbluthengste,
acht Autos, Motorrad - alles lenkste
natürlich selber - das wär ja gelacht!
Und zwischendurch gehst du auf Hochwildjagd.

Ja, und das hab ich ganz vergessen:
Prima Küche - erstes Essen - 
alte Weine aus schönem Pokal -
und egalweg bleibst du dünn wie ein Aal.
Und Geld. Und an Schmuck eine richtige Portion.
Und noch ne Million und noch ne Million.

Und Reisen. Und fröhliche Lebensbuntheit.
Und famose Kinder. Und ewige Gesundheit.

Ja, das möchste!

Aber, wie das so ist hienieden:
manchmal scheints so, als sei es beschieden
nur peu à peu, das irdische Glück.
Immer fehlt dir irgendein Stück.
Hast du Geld, dann hast du nicht Käten;
hast du die Frau, dann fehln dir Moneten - 
hast du die Geisha, dann stört dich der Fächer,
bald fehlt uns der Wein, bald fehlt uns der Becher.

Etwas ist immer.
Tröste dich.

Jedes Glück hat einen kleinen Stich.
Wir möchten so viel: HABEN.SEIN. Und gelten.
Das einer alles hat:
das ist selten.



In diesem Haus in Hindas bei Göteborg lebte Kurt Tucholsky im Exil. Hier starb er auch am 21.12.1935, vor bald 80 Jahren.

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